Wissen schafft Sprache

Verena Hofstätter

S2E12 Verlorene Sprachen

... welche Sprache die Métis in Nordamerika sprechen?

28.06.2022 30 min

Zusammenfassung & Show Notes

Sprachwissenschaftler·innen gehen heute davon aus, dass auf der Erde rund 7.000 Sprachen gesprochen werden. Die größten Sprachen haben Hunderte Millionen von Sprecher·innen. Die Sprecher·innen der kleinsten kann man oft an einer Hand abzählen. Im "Atlas der verlorenen Sprachen" beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Rita Mielke die Geschichte und die linguistischen Besonderheiten dieser kleinen Sprachen. Der Verlag (Duden) schreibt das Buch als "hochwertige[n] Atlas zum Stöbern und 'Darinversinken'". Dem kann ich mich als Sprachwissenschaftlerin nur anschließen. Eine der Sprachen aus dem Atlas möchte ich in dieser Episode vorstellen: die nordamerikanische Mischsprache Michif.

Der "Atlas der verlorenen Sprachen" ist mit dem Ziel geschrieben worden, Horizonte zu erweitern. Alles in allem ist der Atlas  ein schöner Tipp für alle, die sich entweder noch nie mit bedrohten oder ausgestorbenen Sprachen beschäftigt haben oder die wie ich einfach einen schnellen, weil sehr einfach zu lesenden, und vor allem auch sehr ansprechend illustrierten Einstieg in die einzelnen besprochenen Sprachen suchen.

Und genau das wollen wir auch heute machen: Ich möchte euch gern mitnehmen in das Buch und euch eine der vielen Sprachen, die hier beschrieben werden, vorstellen.

Die Geschichte des Michif beginnt mit dem europäischen Pelzhandel. Als im 17./18. Jahrhundert Pelz in Europa sehr gefragt war, sind viele schottische und französische Pelzhändler nach Amerika gefahren, um dort mit den Einheimischen Pelzhandel zu treiben. Als Teil dieser Geschäfte wurden auch indigene Frauen mit den europäischen Händlern verheiratet. Vor allem für die Frauen waren diese Ehen ein entwurzelndes Ereignis. Indigene Frauen hatten nicht nur mit Diskriminierung aufgrund ihrer Ethnie, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts zu kämpfen.

Dazu kam, dass ihre Kinder, wie so viele andere indigene Kinder, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in sogenannte residential schools geschickt wurden, Internate, in denen die Kinder unter staatlicher Leitung und mit Unterstützung von christlichen Ordensgemeischaften zu “normalen” Bürger·innen erzogen werden sollten. Dazu haben neben Missbrauchund Misshandlungen auch strikte Verbote von indigenen Bräuchen und eine rigorose sprachliche Assimilierunggehört.

Nicht viel anders waren die Erfahrungen außerhalb dieser Anstalten. Die Métis haben weder als “Weiße” gezählt, noch als Cree. Als Ausdruck kultureller, sprachlicher und vor allem einer eigenen Gruppenidentität ist zu dieser Zeit in etwa auch eine eigene Sprache entstanden, die sich — um die einzigartige Geschichte und die einzigartige ethnische Identität noch stärker zu betonen — sowohl an die “Muttersprache” Cree als auch an die Vatersprache “Französisch” angelehnt hat.

Das Besondere an Michif ist, dass es sehr komplexe und umfangreiche Anleihen an seine beiden Zunächst sieht das Ganze noch recht simpel aus: Die Nomen entnimmt das Michif praktisch fast zur Gänze aus dem Französischen. Außerdem auch die meisten Wörter, die normalerweise so bei einem Nomen dabeistehen, wie etwa die Artikeln oder Adjektive. Dabei folgen die grammatischen Regeln der französischen Grammatik.
Die Verben auf der anderen Seite entnimmt das Michif aus dem Cree. Und zwar nicht nur die Wörter an sich, sondern eben auch die komplexe Morphologie des Cree, das zu den sogenannten polysynthetischen Sprachen gehört. Die Verben im Cree bestehen aus einem Verbstamm, an den an beide Seiten, links und rechts, unzählige Wortteile angehängt werden können, die zusätzliche Informationen vermitteln.

An einem einfachen Beispiel hört man diese Trennung zwischen Nomengruppe und Verbgruppe ganz gut:
  • la pwee (der Regen, vgl. la pluie auf Französisch)
  • Kimowan. (Es regnet.) 
Diese Trennung zwischen Französisch auf der einen und Cree auf der anderen Seite wird auch dadurch unterstrichen, dass Michif beide phonologischen Systeme erhalten hat. Das heißt französische Elemente werden grundsätzlich “französisch” ausgesprochen, Cree Elemente nach der Aussprache des Cree.

Es gibt aber auch eine Reihe von Phänomenen, in denen die beiden Sprachen ineinandergreifen: wie bei der Klassifikation und den Demonstrativpronomen.

Und all diese Dinge zusammengenommen stellen Typograph·innen vor die eine große Frage: Was ist das Michif nun? Ist es Cree mit französischen Einflüssen? Ist es umgekehrt Französisch mit Einflüssen aus dem Cree? Ist es vielleicht doch eine besondere Form von Mischsprache, eine verflochtene Sprache?

Es ist aber anzunehmen, dass erstens die Erschaffung und die Betonung einer eigenen und unabhängigen kulturellen, aber auch sprachlichen Identität in der Geschichte der Métis eine große Rolle gespielt hat, und dass zweitens die erste Generation, die Michif gesprochen hat, wirklich zweisprachig in Cree und Französisch war. Hätten die einen nur Cree und die anderen nur Französisch gesprochen, wäre eine so komplizierte und so komplexe Sprachstruktur, wie es beim Michif der Fall ist, vermutlich nicht möglich gewesen.


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Nach- und Weiterlesen : Michif (Canadian Encyclopedia) | A Language of Our Own (Bakker, Google-Vorschau)

Wörterbuch : Michif Online Dictionary

Hier geht's zum "Atlas der verlorenen Sprachen" von Rita Mielke (Duden Verlag).
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