S2E14 Erstspracherwerb: Erste Sätze (Teil 4)
... wie Kinder Wörter zu ersten Sätzen verknüpfen
26.07.2022 29 min
Zusammenfassung & Show Notes
Heute reden wir wieder einmal ein bisschen über Grammatik. Ich weiß ja, wie lieb ihr sie habt. Und zwar schauen wir uns an, wie Kinder beim Sprechenlernen zu ihren ersten eigenen Sätzen kommen. Denn wie sich herausstellt, haben Kinder bereits früh ein sehr gutes Verständnis für die Architektur deutscher Sätze. Und das wiederum zeigt sich sogar in ihren kindlichen und zunächst noch unvollständigen Sätzen.
Der Erwerb produktiver syntaktischer Fähigkeiten setzt erst relativ spät ein. Das gilt allerdings nur für die produktive Seite. Nicht für die rezeptive. Mit sieben Monaten erkennen Kinder bereits Funktionswörter im Sprachstrom — zum Beispiel Präpositionen wie mit, auf, bis — , was ihnen dabei hilft, grammatikalische Kategorien zu bilden. Da sich ihre Aufmerksamkeit stark am Sprachrhythmus orientiert, gelingt es ihnen bereits mit neun Monaten syntaktische Einheiten wahrzunehmen, es ist ihnen also klar, welche Wörter in einem Satz zusammengehören.
Der Erwerb produktiver syntaktischer Fähigkeiten setzt erst relativ spät ein. Das gilt allerdings nur für die produktive Seite. Nicht für die rezeptive. Mit sieben Monaten erkennen Kinder bereits Funktionswörter im Sprachstrom — zum Beispiel Präpositionen wie mit, auf, bis — , was ihnen dabei hilft, grammatikalische Kategorien zu bilden. Da sich ihre Aufmerksamkeit stark am Sprachrhythmus orientiert, gelingt es ihnen bereits mit neun Monaten syntaktische Einheiten wahrzunehmen, es ist ihnen also klar, welche Wörter in einem Satz zusammengehören.
Später dann, ab ca. 16 Monaten, gelingt es Kindern, Wörter einer bestimmten Wortart zuzuordnen. Mit 18 Monaten ist das implizite kindliche Grammatikwissen so weit ausgeprägt, dass es Kindern auffällt, wenn jemand beim Sprechen gegen grammatische Regeln verstößt.
Aus diesen Daten schließen einige Forscher·innen, dass Kinder bereits vor ihrem zweiten Geburtstag über ein umfangreiches rezeptives grammatisches Wissen verfügen.Dieses Wissen zeigt sich schließlich auch in der kindlichen Sprache.
Laut Rosemarie Tracy nähern sich Kinder zwischen einem und etwa dreieinhalb Jahren schrittweise in vier wichtigen Entwicklungsphasen dem zielsprachigen — also in unserem Fall deutschsprachigen — System.
Meilenstein I
Der erste Meilenstein liegt in etwa zwischen 10 und 18 Monaten. Die meisten Kinder fangen um den ersten Geburtstag herum an zu sprechen. Zunächst sind das nur relativ wenige einzelne Wörter, wobei sich der Wortschatz in dieser Phase noch sehr langsam vergrößert.
Meilenstein II
Der zweite Meilenstein folgt dann irgendwann zwischen 18 und 24 Monaten. In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres haben die meisten Kinder genug einzelne Wörter in ihrem produktiven Wortschatz, um diese Wörter auch miteinander kombinieren zu können. Grundsätzlich beginnen Kinder in allen Sprachen mit Zweiwortäußerungen. Die Äußerungen werden dann immer länger, je älter die Kinder werden. Die ersten Wörterkombinationen klingen vielleicht wie Brot essen oder Tür zu. An diesen Beispielen hören wir sehr deutlich, dass einerseits natürlich noch sehr viele Wörter (Artikel, Präpositionen und so weiter) fehlen. Andererseits sehen wir aber auch, dass sowohl Verben wie essen in der Infinitivform und sogenannte Verbpartiklenwie zu am Ende der Äußerung stehen.
Exkurs Satzbau
Das Besondere am Deutschen ist, dass die finiten Verben in einem Hauptsatz immer an zweiter Position stehen, in einem Nebensatz aber immer an letzter Position. Ein Beispiel:
Laut Rosemarie Tracy nähern sich Kinder zwischen einem und etwa dreieinhalb Jahren schrittweise in vier wichtigen Entwicklungsphasen dem zielsprachigen — also in unserem Fall deutschsprachigen — System.
Meilenstein I
Der erste Meilenstein liegt in etwa zwischen 10 und 18 Monaten. Die meisten Kinder fangen um den ersten Geburtstag herum an zu sprechen. Zunächst sind das nur relativ wenige einzelne Wörter, wobei sich der Wortschatz in dieser Phase noch sehr langsam vergrößert.
Meilenstein II
Der zweite Meilenstein folgt dann irgendwann zwischen 18 und 24 Monaten. In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres haben die meisten Kinder genug einzelne Wörter in ihrem produktiven Wortschatz, um diese Wörter auch miteinander kombinieren zu können. Grundsätzlich beginnen Kinder in allen Sprachen mit Zweiwortäußerungen. Die Äußerungen werden dann immer länger, je älter die Kinder werden. Die ersten Wörterkombinationen klingen vielleicht wie Brot essen oder Tür zu. An diesen Beispielen hören wir sehr deutlich, dass einerseits natürlich noch sehr viele Wörter (Artikel, Präpositionen und so weiter) fehlen. Andererseits sehen wir aber auch, dass sowohl Verben wie essen in der Infinitivform und sogenannte Verbpartiklenwie zu am Ende der Äußerung stehen.
Exkurs Satzbau
Das Besondere am Deutschen ist, dass die finiten Verben in einem Hauptsatz immer an zweiter Position stehen, in einem Nebensatz aber immer an letzter Position. Ein Beispiel:
Die Kinder essen zu Mittag, bevor wir in den Park gehen.
Genau diese variable Verbstellung kann nun auch zur Erklärung kindlicher Mehrwortäußerungen in dieser Phase des Syntaxerwerbs herangezogen werden. Wenn man nun nämlich weiß, dass das gebeugte Verb auf Deutsch sowohl an zweiter als auch an letzter Position vorkommen kann, klingen Sätze wie Mama auch Durst hat gar nicht mehr so falsch.
Genau diese variable Verbstellung kann nun auch zur Erklärung kindlicher Mehrwortäußerungen in dieser Phase des Syntaxerwerbs herangezogen werden. Wenn man nun nämlich weiß, dass das gebeugte Verb auf Deutsch sowohl an zweiter als auch an letzter Position vorkommen kann, klingen Sätze wie Mama auch Durst hat gar nicht mehr so falsch.
Meilenstein III
Der dritte Meilenstein wird meist in einem Alter zwischen 24 und 36 Monaten erreicht. Man erkennt diesen Sprung in der Entwicklung daran, dass Kinder in diesem Alter anfangen, gebeugte Verben in einfachen Sätzen an die zweitePosition zu stellen. Gleichzeitig tauchen nun auch andere Wortklassen auf, die bis jetzt meist ausgelassen wurden: Artikel (der, die, das, ...), Präpositionen (auf, mit, zu, ...), Modalverben (müssen, können, wollen, ...).Die Kinder haben grundsätzlich verstanden, dass das Verb, wenn es gebeugt ist, an Position zwei gehört, produzieren aber auch immer wieder Sätze, in denen sie das gebeugte Verb am Ende lassen.
Meilenstein VI
Den vierten Meilenstein erreichen Kinder etwa ab 30 Monaten. Und zwar dann, wenn sie beginnen, komplexe Sätze zu äußern. Sätze mit auffälliger Satzstellung, Passivsätze und so weiter. Typisch für diese Phase sind vor allem Nebensätze mit einer Konjunktion (dass, weil, ...). Häufig lassen Kinder hier anfangs zwar noch die Konjunktionen aus. Interessant ist aber, dass sie die außergewöhnliche, aber für das Deutsche typische Verbletztstellung nur selten verletzen. Belegen lässt sich diese Schlussfolgerung in der Forschung unter anderem an sogenannten Füllsilben. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Platzhalter, die an der Stelle zielsprachlicher Wörter stehen.
Ein Beispiel:
[nnnn] so LAUT is als Antwort auf eine Warum-Frage. Das [nnnn] am Anfang steht hier für die Konjunktion weil. > Weil es so LAUT is.
Kinder haben offenbar eine besondere Sensibilität für die typischen deutschen Satzmuster, und sie orientieren sich an dem, was sie hören, und zwar auch schon dann, wenn sie noch gar nicht alle Satzpositionen selbst füllen können.
Eine ähnlich clevere Idee, Lücken in Sätzen zu ergänzen, kann man übrigens auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern beobachten. Diese wählen oft richtige Füllwörter, anstelle von Füllsilben, und zwar einfach aus einer anderen Sprache.
Ein Beispiel:
Das darf man if man will, wo es das deutsche wenn, durch das englische if ersetzt. Das darf if/wenn man will.
Handelt es sich bei diesen Prozessen um eine angeborene Logik? Sind Grammatikstrukturen von Geburt an in unseren Köpfen, in unseren Genen angelegt?
Ein Beispiel:
Das darf man if man will, wo es das deutsche wenn, durch das englische if ersetzt. Das darf if/wenn man will.
Handelt es sich bei diesen Prozessen um eine angeborene Logik? Sind Grammatikstrukturen von Geburt an in unseren Köpfen, in unseren Genen angelegt?
Nein, denn dann müssten alle Kinder der Welt am Ende die gleiche Grammatik, und damit die gleiche Sprache sprechen. Spracherwerbsverläufe sind zwar immer und überall stabil und systematisch. Das zeigen zahlreiche einzelsprachliche Studien. Doch im Vergleich zwischen verschieden Sprachen zeigen sich Erwerbsunterschiede.
Ein Beispiel:
Englischsprachig aufwachsende Kinder kombinieren Verb und Objekt in ihrer ersten Äußerungen genau andersherum als deutschsprachige Kinder. Statt Objekt—Verb, kombinieren Kinder auf Englisch Verb—Objekt. Statt Hut nehmen oder Hund füttern, also take hat oder feed doggie.
Die Art und Weise wie sich diese Verläufe generalisieren lassen, deuten jedoch darauf hin, dass Kinder eine besondere Sensitivität für die sprachlichen Strukturen ihrer Erstsprachen haben. Diese zusammen mit dem kindlichen Fokus auf diese anderen para- und nicht-sprachlichen Merkmale, scheinen die idealen Voraussetzungen dafür zu sein, dass der kindliche Spracherwerb auf die einoder andere Weise und in den aller, allermeisten Fällen erfolgreich zur Zielsprache führt.
Unsere menschlichen Sprachen sind allesamt unheimlich komplex. Manche würden vielleicht sogar sagen, sie sind wahnsinnig kompliziert. Doch Menschenkinder sind sprachbegabte Wesen. Sie wollen kommunizieren und so Beziehungen zu all den großen Menschen um sie herum aufbauen und stärken.
Ein Beispiel:
Englischsprachig aufwachsende Kinder kombinieren Verb und Objekt in ihrer ersten Äußerungen genau andersherum als deutschsprachige Kinder. Statt Objekt—Verb, kombinieren Kinder auf Englisch Verb—Objekt. Statt Hut nehmen oder Hund füttern, also take hat oder feed doggie.
Die Art und Weise wie sich diese Verläufe generalisieren lassen, deuten jedoch darauf hin, dass Kinder eine besondere Sensitivität für die sprachlichen Strukturen ihrer Erstsprachen haben. Diese zusammen mit dem kindlichen Fokus auf diese anderen para- und nicht-sprachlichen Merkmale, scheinen die idealen Voraussetzungen dafür zu sein, dass der kindliche Spracherwerb auf die einoder andere Weise und in den aller, allermeisten Fällen erfolgreich zur Zielsprache führt.
Unsere menschlichen Sprachen sind allesamt unheimlich komplex. Manche würden vielleicht sogar sagen, sie sind wahnsinnig kompliziert. Doch Menschenkinder sind sprachbegabte Wesen. Sie wollen kommunizieren und so Beziehungen zu all den großen Menschen um sie herum aufbauen und stärken.
Unsere Aufgabe ist es nicht, ihnen Wort für Wort und Regel für Regel dieser Sprachen beizubringen. Unsere Aufgabe ist es stattdessen, unser Kinder mit Sprache zu umgeben, sie teilhaben zu lassen an der Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten, die uns dank Sprache zur Verfügung stehen. Unsere Aufgabe ist es, mit unseren Kindern zu kommunizieren. Und zwar so als wären sie genau die kompetenten kleinen Sprachwesen, die sie in Wirklichkeit auch sind.
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Nach- und Weiterlesen : Kindlicher Spracherwerb (Kauschke 2012) | Frühe Sprachentwicklung (Rohlfing 2019) | Wie Kinder Sprache lernen (Tracy 2008)
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