Wissen schafft Sprache

Verena Hofstätter

S2E6 Lesen zwischen Kompetenz und Praxis I

… warum lesen (nichts) mit Bildung zu tun hat?

05.04.2022 29 min

Zusammenfassung & Show Notes

Es ist April: Weltbuchtag, internationaler Kinderbuchtag, die Welt liest. Oder SOLL lesen! Doch was heißt "lesen" überhaupt? Was bringt es mir, wenn ich es kann? Wir werfen heute einen kritischen Blick auf die Idee von "Lesekompetenz" und spannen den Bogen von der Erwachsenenbildung zur Lesesozialisation in der Familie. In Teil Eins dieser zweiteiligen Serie geht es um das "Lesenkönnen" als ökonomischen Faktor in der "literaten" Wissensgesellschaft — und um soziologische Ansätze, die diese Verwirtschaftlichung der Lesefähigkeit versucht zu durchbrechen.

Lesen und  Schreiben zählen zu den grundlegenden Kulturtechniken. Aber vor allem im Bereich der Erwachsenenbildung, und dort vor allem wenn es um die Basisbildung (Grundbildung) geht, sind die Definitionen von Lesen als grundlegende Fertigkeiten, als Kulturtechniken nicht unproblematisch. 

Im Rahmen des europäischen Diskurses um das sogenannte “Lebenslange Lernen” geht eine lange Liste an Mindestkompetenzen einher. Lesen und Schreiben reiche heute nicht mehr, um in hoch entwickelten europäischen Staaten den steigenden Anforderungen von Seiten der Gesellschaft, des Arbeitsmarkts gerecht zu werden.

Zu diesen Mindestkompetenzen zählen: “Sprache, Rechnen, Kommunikation und Leistungserbringung in der Gruppe, Computergrundkenntnisse, Unternehmergeist, Verständnis der technologischen Kultur sowie kognitive Grundlagen und Bereitschaft, on-the-job oder off-the-job weiterzulernen.” Lesen und Schreiben dient neben all diesen anderen Fertigkeiten nur mehr der ökonomischen Verwertbarkeit des Menschen.

New literacy-Forscher·innen auf der anderen Seite gehen davon aus, dass unsere herkömmliche Vorstellung von Literalität, also vom Lesen- und Schreibenkönnen, zu eng ist. Sie kritisieren, dass Lesen und Schreiben einfach mit universellen Kulturtechniken gleichgesetzt werden. Und sie kritisieren vor allem, dass Literalität immer mehr mit allgemeiner Bildung und/oder Intelligenz gleichgesetzt, gleichzeitig aber auch immer weiter in die Verantwortung der Einzelnen gelegt.

Die New literacy studies gehen davon aus, dass es sich beim Lesen und Schreiben um soziale Praxis handelt. Sie gehen davon aus, dass es in einer Gesellschaft mehr als nur eine Literalität gibt. Der konkrete Gebrauch von Schriftsprache ist von der Zeit und dem Ort, an dem geschrieben oder gelesen wird. Wenn man auch ethnolinguistische Faktoren wie soziale Gruppe, soziales Milieu und so weiter mit einbezieht, diversifiziert sich diese Vorstellung von literacy als plurales Konzept noch weiter aus.

In jeder Gesellschaft eine sogenannte “dominante” Literalität. Eine Form des Lesens und Schreibens, die der sozialen Praxis der machtstärksten Gruppen entspricht, und an der alle anderen Formen gemessen (= abgewertet) werden.

Das Lesen ist — spätestens mit dem Beginn der Moderne — zu einer sozialen Norm geworden. Geprägt vom kulturellen Leitmedium des Bürgertums im 19. Jahrhundert par excellence, das über das Wirken machtvoller sozialer Institutionen wie der Schule bis heute als Gradmesser für Bildungserfolg dient: dem Buch. 

Literatur : Manfred Krenn über Bildungsbenachteiligung | Brian Street über New Literacy Studies | Wortherkunft Lesen | Mehr zum Begriff Kulturtechnik

Hier geht's zu den erwähnten Beiträgen im Blog: Bildungsbenachteiligung in Österreich | Umfrage zum Thema "Lesen" | Serie: Schriftspracherwerb

Interview mit Carla Heher vom Kinderbuchblog buuu.ch: Erstlesebücher


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